Text: Umbruch und Aufbruch Der neue Direktor Johann Holten zeigt seine erste Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle Von Milan Chlumsky Die Mannheimer Kunsthalle gilt als Kunsthalle der Skulpturen, mit Manets „Erschießung des Kaisers Maximilian“ als Ort eines grandiosen Epos von Gerechtigkeit und Freiheit, als Ort der richtungsweisenden Stilrichtung Neue Sachlichkeit vor knapp 100 Jahren ebenso wie als Ort unvergleichlicher Einzelobjekte wie „Der Große Fisch“ von Brancusi aus dem Jahr 1930. Das alles hätte schon gereicht, um den exquisit „musealen“ Charakter zu unterstreichen. Und vor allem dazu, sich nach dem großen Museumsneubau damit zufriedenzugeben, wie die Dinge sind. Doch wer den neuen Direktor der Kunsthalle kennt, erinnert sich gern daran, welche Innovationen er in das Programm des Heidelberger Kunstvereins brachte – etwa die Auseinandersetzung mit der Architektur - oder dann später in Baden-Baden, wo er auf die 800 Jahre lange Geschichte des Geldes (Gutes böses Geld, 2016) blickte. Logischerweise daher auch das Nachdenken über uns alle berührende gegenwärtige gesellschaftlichen Ereignisse und die Rolle der Kunst in dieser Zeit der – man möchte es hoffen – ausklingenden Pandemie. Holten begreift die Gegenwart als eine Reihe tiefgehender Umbrüche, beispielsweise schon dadurch, dass unter den Armen in der Welt die meisten Corona-Opfer zu beklagen sind, dass die Frauen dabei sind, sich stärker als je zuvor gegen die Unterdrückung durch die Männer zu stemmen und von Diktatoren beherrschte Gesellschaften am Ende implodieren. Das erste Beispiel für diese Umbrüche hat mit der Ausstellungsgeschichte der Mannheimer Kunsthalle zu tun. Als 1925 der damalige Direktor Gustav Friedrich Hartlaub eine nachexpressionistische Wanderausstellung vorbereitete, gelang es ihm, die vielen diversen Strömungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, indem er einen Teil der herausragenden Künstler seiner Zeit - den eher klassisch-konservativen Flügel - als jenen erkannte, der am sensibelsten auf die gesellschaftlichen Umbrüche der damaligen Zeit reagierte. Das einzige, was Hartlaub „vergessen“ hatte, waren die Frauen. Malerinnen wie Jeanne Mammen (1890-1976), Anita Rée (1885-1933) und vor allem die Heidelbergerin Hanna Nagel (1907-1975) nahmen die politischen Entwicklungen sehr empfindsam wahr. Hanna Nagel, die dank der Ausstellungen des Kurpfälzischen Museums keine Unbekannte mehr ist, widmete sich sehr kritisch der Rolle der Frau, unter anderem dem Thema Abtreibung. Die Kunsthalle Mannheim, die einige ihrer Blätter besitzt, zeigt sie als Prototyp eines neuen Verständnisses der Frauen in der Kunst der Neuen Sachlichkeit, die eine Neubewertung erfahren. Für Jeanne Mammen bedeutete der Nationalsozialismus ein abruptes Ende einer erfolgreichen Künstlerkariere, zumal sie auch für viele Zeitschriften arbeitete, die verboten wurden. Sie wandte sich von ihren oft pointierten und überzeichneten gesellschaftlichen Porträts ab und der Abstraktion zu. Mammen arbeitete nach dem Krieg zwar weiter, beachtet wurde sie – bis tief in die 1970er Jahre – aber kaum. Mit Ausstellungen in einigen Galerien in New York Ende der 1980er Jahre erwachte auch das Interesse an ihrem Beitrag zur Neuen Sachlichkeit. Die radikale Wende, die durch die Informationstechnologie auch in der Kunst eine große Rolle spielt, führt ebenfalls zur Befreiung von festgeschriebenen Pfaden und Mechanismen der Museumsarbeit. Holten lud die Künstlerin und Choreographin Alexandra Pirici ein, geboren in Bukarest, ein, um mit Performern und Performerinnen zu arbeiten. Pirici versucht, die Welt der Erinnerung erfahrbar zu machen, indem sie mit Tanz, Gesang und Rezitieren Bezüge zu den ausgestellten Werken herstellt. Die Körper bilden so etwas wie eine lebende Skulptur, die Echos in den verschiedenen Posen der Marmor- oder Bronzeskulpturen der Kunsthalle findet. Einen Resonanzraum mit in den Wänden angebrachten Musikinstrumenten schuf Nevin Aladag; die Resonanz ist sogar physisch erfahrbar. Damit wird den musikalischen Traditionen in der Türkei und in Deutschland Tribut gezollt und an private Musikzimmer des 18., 19. Jahrhunderts erinnert. In der Türkei hat Nevin Aladag Instrumente aus Second-Hand-Möbeln erstellen lassen, um damit zu musizieren. Als Kontrapunkt zu diesem eher meditativen Raum steht die fulminante Videoarbeit „Les Indes Galantes“ des französischen Film- und Videokünstlers Clémant Cogitore, der sich eines barocken Opernballetts angenommen hat, das im frühen 18. Jahrhundert zwei amerikanische Indigener vorgeführt und die Autoren des Operballets inspirierten. Dieser zunächst wilde Tanz, der unlängst in der Pariser Oper gezeigt wurde, greift auf die Wurzeln des sogenannten Freestyle Krump zurück, mit dem sich junge Menschen in Los Angeles während ihres Protestes gegen die rassistisch motivierte Gewalt fortbewegten. Ein hinreißendes Finale zeigt, wie die Musik alle zusammenschweißt und sich in eine explosive Kraft verwandelt. Die Umbruch-Ausstellung endet mit leisen Tönen: Die chinesische Künstlerin Hu Xiaoyuan nutzt Tusche, um in unendlich intensiver Arbeit zum Beispiel die Maserungsspuren von Holz auf Seide zu übertragen, bis auf dem halbtransparenten Stoff unzählige Zufallsmuster entstehen. Der Stoff wird dann entfernt und Hu Yiaoyuan lässt die ursprüngliche Maserung mit weißer Farbe verschwinden. Schließlich befestigt sie auf dem bemalten Holz die kalligraphischen Seide-Zeichnungen und stellt den Betrachter vor die Fragen: was ist real, was ist gemalt, wo sind die Grenzen? „Spheres of Doubt II“ stellt die Beschaffenheit nicht nur von Holz, sondern auch diverser Fundstücke wie Glas, Stein, Porzellantasse in Frage. Dabei altert auch die Seide und verändert sich dabei. Wir befinden uns in einer Welt, die sich unentwegt verändert. Wir spüren, sehen und nehmen den Umbruch wahr, ohne jedoch den Ausgang vorauszusehen: den Umbruch der noch nicht festgeschriebenen Geschichte. („Umbruch“, Kunsthalle Mannheim bis 18.10., Infos: www.kuma.art, hier auch die gesetzlichen gesundheitlichen Vorschriften. Der Katalog erscheint etwa in 6 Wochen.)