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Die Sache mit der Sachlichkeit – 100 Jahre Neue Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim

Die Sache mit der Sachlichkeit – 100 Jahre Neue Sachlichkeit in der Kunsthalle Mannheim

 „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es, als die Zeit, in der man lebt.“ (Egon Erwin Kisch, Der rasende Reporter, 1925)

Es war schwierig, die neuen Trends in der deutschen Kunst am Beginn der 1920er Jahre mit einem Epitheton zu versehen: einig war man sich, dass die Epoche des Expressionismus zu Ende war und der erste Weltkrieg so viel an Empfindungen und Kunstansichten verändert hatte, dass man es nicht mehr übergehen konnte. Zahlreiche Künstler haben gespürt, dass eine profunde Kehrtwende geschah. 1922 hatte die Zeitschrift Das Kunstblatt unter dem Titel „Ein neuer Naturalismus?“ eine Umfrage gestartet, die sich an bekannte Künstler, Schriftsteller und Museumsleiter richtete. Ein Jahr zuvor adressierten Otto Dix, Rudolf Schlichter und Georg Scholz an die in Berlin ansässige November-Gruppe: „Es muss als Ziel angesehen werden, die ästhetische Formelkrämerei zu überwinden durch eine neue Gegenständlichkeit.“

Kurz darauf kritisierte man die neuen Kunstformen als eine spezielle Form der Fortsetzung des Expressionismus, den man am Ende des Ersten Weltkrieges als überholt ansah: Hier und da fiel der Begriff „Neue Gegenständlichkeit“. Der Kunstkritiker Franz Roh sah diese Zeit der Inkubation eines neuen Kunststils in vielen Facetten: eine Reaktion auf den Krieg seien sie, die jedoch weder formal stilistisch, noch inhaltlich zu fassen seien. Ein Epochenphänomen, eine Art neuer Gegenständlichkeit, markiert mit Zeichen des herrschenden Zeitgeistes — summa summarum: „Eine neue Art, die Welt zu sehen“ (wobei dieses Sehen damals offensichtlich nur die Domäne der Männer war, Frauen waren nicht einmal erwähnt.)

Es scheint, dass in zahlreichen deutschen Künstlervereinigungen eine allgemeine Unsicherheit darüber herrschte, wie es mit der Kunst nach dem Ende des Expressionismus weitergehen sollte. Der Katalog zur aktuellen Ausstellung der Mannheimer Kunsthalle zitiert etwa 70 Publikationen, die direkt oder indirekt die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg durchleuchten auf der Suche nach einer möglichst zufriedenstellenden Antwort über den Geist jener Jahre, die selbstverständlich auch für alle anderen künstlerischen Entwicklungen von Gültigkeit sind.

Es ist daher notwendig, sehr genau jene Schritte zu verfolgen, die der damalige Gründungsdirektor der Kunsthalle Mannheim Dr. Fritz Wichert dem 1913 von der Bremer Kunsthalle abgeworbenen Dr. Gustav Friedrich Hartlaub hinterlassen hatte: eine großartige Sammlung an deutscher Kunst aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, gefolgt von Werken der französischen Realisten und Impressionisten. Was Hartlaub vorschwebte, als er im Mai 1923 die Leitung der Kunsthalle von Wichert übernommen hatte, versuchte er in einem Brief näher zu definieren: „Ich möchte im Herbst eine mittelgroße Ausstellung von Gemälden und Graphia veranstalten, der man etwa den Titel geben könnte ‚Die neue Sachlichkeit‘. Es liegt mir daran, repräsentative Werke derjenigen Künstler zu vereinigen, die in den letzten 10 Jahren weder Impressionistisch aufgelöst noch expressionistisch abstrakt, weder rein sinnenhaft äußerlich noch rein konstruktiv innerlich gewesen sind. Diejenigen Künstler möchte ich zeigen, die der positiven greifbaren Wirklichkeit mit einem bekennerischen Zuge treu geblieben oder wieder treu geworden sind …“

Auf der einen Seite soll es sich um „Neo-Klassizisten“ handeln (mit gewissen Anleihen von Picasso, Archipenko und Kay H. Nebel) und „Veristen“ (mit Beckmann, Grosz, Dix, Drexel, Scholz, etc). Damit war das Thema des Expressionismus definitiv erledigt, man sprach noch vom magischen Realismus oder auch einer Neuen Gegenständlichkeit. Die Liste entwickelte sich mächtig, mit 233 Arbeiten von 103 Künstlern. Was in der Ausstellung fehlte, waren die Arbeiten von Künstlerinnen.

Georg Scholz: Selbstbildnis vor der Litfasssäule, 1926, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Hier ist auf die Rolle des Mannheimer Kunsthändlers Herbert Tannenbaum (ehemaliger Volontär an der Mannheimer Kunsthalle und deutsch-amerikanischer Galerist 1892-1958) hinzuweisen: Er gründete 1920 ein Kunsthaus neben dem Wasserturm und informierte maßgeblich über die Neuigkeiten auf dem Kunstmarkt. 1920 zeigte er beispielsweise Chagall, Picasso und Rodin. 1923 Wilhelm Schnarrenberger, 1924 Georg Scholz, 1925 Karl Hubbuch, 1926 Otto Dix und 1928 Xaver Fuhr. Hartlaub hatte in Tannenbaum, der 1936 gezwungen wurde, sein Kunsthaus zu verkaufen und wenig später emigrierte, zudem einen sehr feinfühligen Gesprächspartner.

Hartlaubs Ausstellungkonzept hatte bereits Anfang 1923 erste Konturen angenommen. Im Juli 1923 umfasste sein Notizblock schon 52 Namen, davon wurden 32 angeschrieben, unter ihnen Max Ernst, Karl Hubbuch, Otto Dix, Max Ernst, Otto Grosz, Alexander Kanoldt. Ausdrücklich sollte die „postexpressionistische Kunst“ gezeigt werden, in der das Sachliche und Ungekünstelte dominierte. Otto Dix hat an der Formulierung Hartlaubs Anstoß genommen (…..) „Maßgebend für die Auswahl ist also abgesehen von dem angedeuteten Stilwille nur der Qualitätsgesichtspunkt (…) so weit nicht Kunst- und kulturpolitische Erwägungen allgemeiner Art den Ausschluss solcher Stücke erfordern sollten, die in gegenständlicher Hinsicht allzu gewagt erscheinen und in einer unvorbereiteten Öffentlichkeit nur Missverstehen hervorrufen müssten“… Otto Dix begriff dies als Zensur und drohte seine Zusage zu widerrufen. Nur die Überredungskünste des bekannten Galeristen Nierendorf halfen, Dix umzustimmen – umso trauriger, dass sein Ausstellungsblatt (Die Witwe,1925) verschollen ist.

Hartlaub hat zudem begonnen, Kunstwerke der Neuen Sachlichkeit für die Sammlung zu erwerben – auch wenn es nicht immer reichte, für die vorgesehene Ausstellung die Arbeiten zu erwerben, so ist doch die Liste, die unter dem Kapitel „Ankäufe neusachlicher Malerei“, die im Katalog der Ausstellung verzeichnet sind (S.14-15), beeindruckend.

Die neue Sachlichkeit und der Nationalsozialismus

Die Kuratorin und stellvertretende Direktorin der Mannheimer Kunsthalle, Inge Herold, hat akribisch die weitere Entwicklung jener Künstler untersucht, die Hartlaub zu seiner Ausstellung eingeladen hatte. Während die einen kurzfristig in die Partei eintraten (und als Professoren an Akademien weiter tätig sein konnten), blieb anderen nur die Flucht – wie etwa Felix Nussbaum mit seiner Lebensgefährtin Felka Platek 1935 nach Belgien. Sie wurden 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert und dort getötet (sogar sein Todesdatum bleibt unbekannt).

Nur wenigen gelang es, ohne Anbiederung an die nationalsozialistischen Kunstfunktionäre ohne größere Gefahren durch die schwierigen Jahre zu kommen. So wurde Franz Lernk noch zwischen 1933 bis 1939 Professor an Berliner Kunstschule, während die Professoren Paul Klee und Heinrich Campendonk von der Kunstakademie Düsseldorf fristlos entlassen wurden.

Inge Herold zitiert die Parteitagsrede von Adolf Hitler von 1935 und seine schroffe Abrechnung mit der Kunst der Neuen Sachlichkeit: diese „dadaistisch-kubistischen und futuristischen Erlebnis- und Sachlichkeitssschwätzer“… dürfen unter keinen Umständen an der „kulturellen Neugeburt“ – sprich an der Kunst des Nationalsozialismus teilnehmen. Einige der hohen NS-Funktionäre kauften dennoch Bilder der Neuen Sachlichkeit.
Herold schließt mit einem Überblick über ähnliche Entwicklungen in Italien (infolge der pittura metafisica), in Frankreich infolge einer spezifischen Funktion des Neoklassizismus (von Henri Rousseau bis Picasso), in der Schweiz mit einer spezifischen Variante der eher klassizistischen Ausrichtung der Neuen Sachlichkeit, über die Niederlande, Großbritannien bis hin zur USA mit teilweise an verschiedene Regionalismen anknüpfenden spezifischen gesellschaftlichen Problemen (etwa der Einsamkeit in der industriellen Welt bei Edward Hopper oder Charles Sheeler).

Deutschland hat nach dem Ersten Weltkrieg mit der schwierigen ökonomischen und politischen Lage zu kämpfen. Das Ergebnis ist leider bekannt – die Ergreifung der politischen Macht durch die Nationalsozialisten 1933. Es ist mehr als wundersam, dass in dieser Zeit so hervorragende Leistungen in den Künsten und in den Wissenschaften vollbracht werden konnten: Theater, Film, Kabarett und die Bildende Kunst haben eine unglaublich reiche Entwicklung vollbracht.

In den Bildenden Künsten in den 1920er Jahren vollzog sich eine Wende: Neben die klassische Porträtkunst, die die individuellen Züge möglichst getreu wiederzugeben versuchte, trat zum ersten Mal auch das Bewusstsein der Ungleichheit der sozialen Herkunft: August Sander porträtierte mit seiner Kamera die Menschen des 20. Jahrhunderts und das so präzise, dass es nicht schwerfällt, den sozialen Rang zu identifizieren.

Auch in der Malerei trat die soziale Komponente immer deutlicher in den Vordergrund. Inge Herold weist zu Recht darauf hin, dass Literatur, die zur genaueren Charakterisierung der Menschen beitragen wollte, in den 1920er Jahren Konjunktur hatte: „Körperbau und Charakter“ von Ernst Kretschmer (1921), „Menschengestalt und Charakter“ von Emil Peters (1930) und „Sehe Dir die Menschen an“ von Gerhard Venzmer.

Die Künstler haben als Erste verstanden, was sie von den anderen Menschen unterscheidet – das Bewusstsein einer besonderen Position und Rolle in einer Gesellschaft, in der die Armut proportional zur Verschlechterung der Weltökonomie infolge des Börsenkraches an der New Yorker Börse am 24. Oktober 1929 anstieg. Eine neue Art der sozialen Kälte, individuellen Härte und Distanz fand man in der Malerei jener Jahre als feste Kategorie des neuen künstlerischen Ausdrucks: „Ähnlichkeit ist überhaupt keine künstlerische Kategorie. Es geht um eine Doppelsprache: individuelles Gesicht und Typus Mensch mit allen Zügen der Zeit“, so der Kunstkritiker Paul Ferdinand Schmidt.

Interessant ist ebenfalls, dass es mehr Aktbilder von Frauen als je zuvor gab, diesmal von Frauen gemalt. Offensichtliche Tabu-Brüche fanden sich immer öfter auch öffentlich gezeigt – währenddessen wurde aber Homosexualität immer noch strafrechtlich verfolgt.

Arno Henschel: Dame mit Maske, 1928, Görlitzer Sammlungen für Geschichte und Kultur

Ebenfalls neu ist, dass Künstlerinnen immer öfter Selbstporträts malten, oder, wie Renée Sintenis, eine Kopfabbildung modellierten. Ausdrucksstarke Selbstporträts gab es auch von den Malern Georg Scholz, George Grosz oder Alexander Kanoldt.

Natürlich gab es auch in der Epoche der Neuen Sachlichkeit große Qualitätsunterschiede. Am deutlichsten lässt sich dies in dem Part erkennen, der Die Stadt, Industrie und Mobilität umfasst: Hier dominieren eindeutig ein Edward Hopper mit seinem „Fenster bei Nacht“ (1928) oder Franz Radziwill mit seinem „Morgen an der Friedhofsmauer“ (1927, Aus der Sammlung der Kunsthalle Mannheim).

Über fast jedes der 21 Kapitel des Kataloges und die verschiedenen thematischen Abteilungen der Ausstellung (mit 233 Arbeiten von 103 Künstler und 21 Künstlerinnen) ließe sich unendlich sinnieren- so etwa über eine gewisse Starrheit der Posen – sowohl bei normalen Porträts wie auch bei Aktbildern oder in der Sektion „Das Bild des Menschen“ sowie einen gewissen Schematismus in der Darstellung der städtischen Architektur … doch das sind Randbemerkungen zu dieser grandiosen Schau.

Und noch eins verdient erwähnt zu werden: die vorzüglicher Gesamtarchitektur mit Auszügen aus den zeitgenössischen Wochenschauen sowie das digitale Begleitprogramm. Glückwunsch zum gelungenen 100-jährigen Jubiläum!

Kunsthalle Mannheim, bis 9. März 2025, umfangreicher Katalog im Deutschen Kunstverlag (40 EUR im Museumsshop)



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